Er ist das Urbild nonchalanter Höflichkeit, verliert niemals die Fassung, schätzt die Einfachheit, und über seine Kleidung macht er sich nicht mehr Gedanken als unbedingt nötig:
Jenseits von Eden gibt es Bauern und Banausen, Hochmut und Herrenmenschen: eine Welt voller Ungleichheiten. Aber zu diesen Diskrepanzen kommt es nicht zwangsläufig. Am Anfang, im Paradies, gab es keine Unterschiede zwischen den Menschen, zumindest nicht die ganz feinen. So hat es jedenfalls ein frommer englischer Pamphletist des 16. Jahrhunderts gesehen. “Als Eva träumte und Adam sann – wer war da der Gentle-Mann?” lauten seine in England noch heute geläufigen Verse. Mit dieser – natürlich rein rhetorischen – Frage wollte er seine Zeitgenossen darauf hinweisen, dass feine Manieren und vornehme Haltung nicht dem Naturzustand des Menschen entsprechen. Sie folgen erst, so lautet die Botschaft, aus dem wegweisenden Sündenfall: Degeneration bedingt Distinktion. Nur Jenseits von Eden kann es so etwas wie den Gentleman geben.
Mag sich heute auch diese Auffassung weitgehend durchgesetzt haben – vor allem in Österreich, anders als in Britannien, neigt man ja traditionell dazu, eine unüberwindbare Kluft zwischen Höflichkeit und Natürlichkeit zu sehen – so ist sie doch nicht unwidersprochen geblieben. Zumindest in alteingesessenen Londoner Clubs hatte man niemals Mühe, auf diese spöttische Frage eine nonchalante Antwort zu finden: Wer zu Paradieseszeiten der Gentleman gewesen sein soll? Adam natürlich; schließlich kommt Eva, als Frau, für diese Rolle schon prinzipiell nicht infrage.
In diesen Clubs, wo Traditionsbewusstsein mehr zählt als gut polierte Schuhe, fällt es gewiss niemandem schwer, Adam als unmittelbaren Ahnen zu sehen. Dieser war nur bedauerlicherweise gezwungen, seinen Status als Gentleman aufzugeben, als er aus dem Paradies vertrieben wurde. Doch seine Nachfolger bemühen sich seither darum, die angestammte Position Adams wieder einzunehmen: die des heiter-gelassenen, sich selbst genügenden, durch nichts aus der Fassung zu bringenden Bewohner des Gartens Eden. Allerdings sind Mühe und Anstrengung, von Lohnarbeit ganz zu schweigen, unvereinbar mit den Manieren und dem Selbstverständnis eines Gentlemans. Also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich auf einem möglichst abgelegenen und möglichst behaglichen Landsitz so lange die Tage auf zivilisierte Weise zu vertreiben – zum Beispiel mit Jagen und Angeln – bis die alten paradiesischen Zeiten wieder anbrechen.
So ungefähr ist es in einem schmalen Bändchen zu lesen, das vor ein paar Jahrzehnten in vermutlich sehr kleiner Auflage in Großbritannien erschien. Der ansonsten unbekannte Verfasser Douglas Sutherland, den wir uns natürlich als einen pensionierten Major der Royal Army vorzustellen haben, beschreibt kurzweilig die Lebensumstände, Vorlieben und Gewohnheiten eines typischen englischen Gentleman, so wie er im mittleren 20. Jahrhundert schon längst ein klassisches Markenzeichen der britischen Kultur war. Als schrulliger, irgendwie jedoch liebenswerter Landbewohner, als Exzentriker – und manchmal fast sogar als ein Snob – erscheint die Figur des englischen Gentleman in diesem Traktat: altmodisch und dünkelhaft, immer ungerührt und unaufgeregt, ein Stolperstein in modernen Zeiten. Statt weltlichen Ehrgeizes beseelt ihn gepflegte Langeweile, statt Neugier und Weltoffenheit eine spröde, sture Liebe zu den immer gleichen Gewohnheiten. Statt Wandelfähigkeit und unbegrenzte Mobilität, den Kardinaltugenden des modernen Wirtschaftsmenschen, besitzt er ein Haus in schwer zu erreichenden Landstrichen und die lebenslange Mitgliedschaft in einem exklusiven Londoner Herrenklub, wo er sich aufhält, wenn ihn dringende, nicht zu umgehende Geschäfte zum Besuch der Hauptstadt zwingen: Ein Termin bei seinem Schneider zum Beispiel.
In dieser “Handvoll ausgewählter Privat-Zoos, die man Clubs nennt” mag man vielleicht auch heute noch Vertreter dieser “aussterbenden Rasse” finden können, die “einmal einen guten Teil der Welt am Laufen hielten, ohne allzu ernsthaft an Arbeit denken zu müssen”, wie ein schottischer Aristokrat in der Einleitung zu Sutherlands Bändchen schreibt. Ansonsten dürften uns solche Figuren eher selten begegnen, am ehesten wohl noch in jenen verschlafenen Winkeln Surreys oder Kents, deren endlos lange und verwickelte Ortsnamen nur von Eingeweihten richtig auszusprechen sind.
Aber unabhängig davon, ob es den englischen Gentleman in der Wirklichkeit noch gibt – oder, in unseren Zeiten, überhaupt noch geben kann – hat man überall in der Welt eine ungefähre Vorstellung von ihm. Das Ideal des Gentleman, das den Engländern im viktorianischen Zeitalter zur zweiten Religion wurde, hat nicht nur die englische Geschichte geprägt, die Politik und die Schulerziehung. Es bot auch den Stoff für unzählige Figuren in der englischen Literatur, von den Romanen Jane Austens, Trollopes und Thackerays bis zu den Erzählungen William Sommerset Maughams. Vom famosen Lord Peter Wimsey, der, natürlich, nur ein Amateurdetektiv ist, über den trotteligen Gefährten der Miss Marple bis zur Contenance James Bonds.
Doch so weit verbreitet diese Vorstellungen über den Gentleman sein mögen – so vage und verschwommen sind sie auch. In die Irre führen all die einschlägigen Stilfibeln und Lebenskunst-Plädoyers, die zuletzt den deutschen Buchmarkt überschwemmten. Sie haben mit der Figur des Gentlemans so viel zu tun wie, sagen wir, Erik Ode mit Roger Moore. Oder ein Tweed-Sakko mit einem Sakko aus Harris Tweed. Sie bieten nicht viel mehr als Abziehbilder. Vor allem wollen sie uns wahrlich glauben machen, dass man nur eines dieser “Herrenausstatter”-Geschäfte betreten muss, um ein Weltmann zu werden.
Ganz zu schweigen davon, dass sich ein Gentleman niemals mehr Gedanken über seine Kleidung macht als unbedingt nötig, wird er gewiss gerade die Kleidung nicht als Distinktionsmerkmal einsetzen. Darin zumindest liegt ein Wesenselement des englischen Gentleman, das sich seit dem elisabethanischen Zeitalter, seit Sir Walter Raleigh nicht verändert hat.
Ähnlich drückt dies auch der Earl of Chesterfield aus, in seinen berühmten “Letters to his Son”, die im 18. Jahrhundert ein zugleich weltläufiges und urbritisches Idealbild des Gentlemans entwerfen. Die Kleidung, so schreibt er, ist an sich eine völlig unbedeutende Sache; es sei nur töricht, wenn man sich nicht den Umständen, den Situationen entsprechend anzieht: “Meines Erachtens setzt alles Gezwungene in der Kleidung einen Mangel an Verstand voraus. Der Unterschied zwischen einem Weltmann und einem Gecken besteht darin, dass der Geck sich etwas auf seine Kleidung einbildet, indes der Weltmann über ihn lächelt und schweigt.” Man findet schon in dieser beiläufigen Bemerkung die wesentlichen Ingredienzien des englischen Gentleman: Vor allem ist er ein Mann von Welt, ausgestattet mit Toleranz, Contenance und vollendeten Umgangsformen. Einer, der jederzeit sich selbst beherrscht wie die Situationen, in denen er sich befindet. Der lächelnd zu schweigen versteht.
“Welt haben”, so Chesterfield an anderer Stelle, “ist ein trefflicher Ausdruck dafür, wenn man Geschmeidigkeit in seinem Auftreten besitzt und sich in jeder Gesellschaft angemessen zu verhalten weiß. Denn ein Mensch, der keine guten Manieren besitzt, gehört nicht zur Welt. Ohne sie sind alle anderen Gaben und Talente unvollkommen.” Chesterfields Briefe haben den denkbar größten Einfluss auf Formierung und Anspruch des englischen Gentleman ausgeübt: Sie lesen sich wie eine Gründungscharta. Ohne sie wäre die Blüte jener Sozialfigur im viktorianischen Zeitalter gar nicht denkbar.
1774 in einer posthumen Ausgabe veröffentlicht, avancierten Chesterfields Briefe sofort zum Reißer auf dem Buchmarkt; drei Auflagen wurden noch im ersten Jahr gedruckt – Dutzende folgten im nächsten Jahrhundert. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein las man sie in England als Bibel des guten Tons. Und sie sind der Auftakt zur endlos langen Reihe von Leitfäden für den Gentleman, die in der viktorianischen Epoche erscheinen sollten. Die Briefe Chesterfields gehörten sogar zu den ersten Büchern, die in Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkriegs wieder gedruckt wurden. Man hat sie hier leider gar nicht oder nur allzu flüchtig zur Kenntnis genommen. Sie bieten ja auch keine Philosophie, letztlich nicht einmal eine “Kavaliersphilosophie”, wie man abschätzig meinte, sondern das Substrat einer Lebens- und Welterfahrung, einen praktischen Wegweiser zu einem wirklich zivilisierten, einem in Form und Inhalt vollendeten Dasein als vornehmer Müßiggänger.
In den mehr als 400 Briefen, geschrieben über einen Zeitraum von 30 Jahren, hat der Politiker, Diplomat und hochbegabte Essayist Lord Philip Dormer Stanhope, 4. Earl of Chesterfield (1694-1773), seinen Sohn Philipp zu instruieren, zum Gentleman zu erziehen versucht; übrigens völlig vergeblich, aber das wäre eine andere Geschichte. Dieser Sohn wurde 1732 geboren, als Folge einer Affäre des Lords mit einer französischen Gouvernante in Den Haag, wohin ihn der diplomatische Dienst verschlagen hatte. Natürlich heiratet Chesterfield später eine vermögende Dame der feinen Londoner Gesellschaft. Aber er bemühte sich doch, in Form ausführlicher Briefe und regelmäßiger Geldzuwendungen, um die standesgemäße Erziehung seines Sohnes.
Die Briefe an ihn stellen einerseits, wie einmal bemerkt wurde, ein “intellektuelles Bombardement” von bedrückendem Ausmaß dar. Andererseits wird man kaum, schon gar nicht in diesem Zeitalter, ein vergleichbar ehrgeiziges, weitgespanntes und teilnahmsvolles Projekt zur Erziehung, Zivilisierung eines Kindes finden.
Ihre Folge beginnt mit den Mahnungen an den Sechsjährigen, nicht in der Nase zu bohren oder sich am Kopf zu kratzen, findet ihre höchste Dichte während der Grand-Tour des 16-Jährigen, und endet erst kurz vor dem Tod des eigentlich Gescheiterten, der 1768 in Deutschland einer Krankheit erliegt. Sie haben vor allem ein Ziel: den Illegitimen für eine (politische) Karriere zu präparieren – aus dem durch die uneheliche Geburt Deklassierten ein makelloses Mitglied der guten Gesellschaft zu machen.
Und sie speisen sich größtenteils aus der Lebenserfahrung des weitgereisten Lords, der seine beachtliche höfische und diplomatische Karriere, sein einflussreiches politisches Leben unvollendet abbrechen musste – er war, wie es ein Zeitgenosse formulierte, ein Genie darin, sich Feinde zu schaffen – und sich weitgehend in sein Privatleben zurückzog, auf die Position eines an allem interessierten Müßiggängers.
Nichts lässt er aus. Unermüdlich belehrt er seinen Sohn darüber, wie man mit weltläufiger Lässigkeit einen Raum betritt oder wie man auf einem Stuhl Platz nimmt. Dass man in der Konversation alle heiklen Themen umgehe und niemals etwas von seinen persönlichen Gefühlen verrate. Dass man Weitschweifigkeit, zur Schau gestellte Belesenheit, Rechthaberei und lange Worte meide. Dass man den anderen nicht mit den eigenen Stimmungen und Launen zu Last falle, dass man viel lächele und nie lache. Dass man immer und unter allen Umständen in Reserve zu bleiben habe.
Chesterfields Bild des Gentleman basiert zwar auf den klassischen Vorstellungen vom Ehrenmann und “Wohlgeratenen” (F. Nietzsche), wie wir sie seit der Antike, seit den Schriften von Aristoteles und Plato, Cicero und Seneca besitzen. Die Tugenden des mittelalterlichen Ritters, des Höflings aus der italienischen und englischen Renaissance kommen hinzu, des Honette-Homme, der im Zeitalter Ludwigs XIV. dann als “barocker Ritter” (J. Burckhardt) auftritt. All diese Fäden – bestes alteuropäisches Kulturerbe – laufen bei ihm geschmeidig zusammen.
Und doch formuliert er ein zutiefst britisches Ideal des gesitteten Betragens. Sein Gentleman ist das Urbild englischer Höflichkeit, die auf den Prinzipien der Gelassenheit, Freiheit und Angemessenheit basiert. Einer, der angenehme, unaufdringliche Geselligkeit bietet, der leutselig ist, zu jedermann freundlich, und die Dienstboten nicht schlechter behandelt als seinesgleichen. Der selbst vor dem König nicht in Ehrfurcht erstarrt, weil er niemals die Fassung verliert. Dem der Geburtsrang eines Menschen nichts bedeutet, wenn dieser sich nicht zu benehmen weiß. Der das Gezierte verachtet und die Einfachheit schätzt. Der einzig würdige Nachfahre Adams.
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